Normalerweise nehmen wir an, dass wir besser als alle anderen wissen können, was wir selbst denken, wollen oder empfinden. Während die anderen darauf angewiesen sind, mein sprachliches und nicht-sprachliches Verhalten zu beobachten, kann ich selbst, so scheint es, mit größter Leichtigkeit wissen, was ich gerade denke, will oder empfinde. Ich muss zu diesem Zweck weder mein sprachliches noch nicht-sprachliches Verhalten beobachten. Es sieht vielmehr so aus, als hätte ich unmittelbaren Zugriff auf das, was in meinem eigenen Geist vor sich geht. Die traditionelle Erklärung für diesen Umstand besteht darin, dass wir neben unseren „äußeren“ Sinnen, die uns mit Informationen über die Außenwelt versorgen, noch einen weiteren, „inneren“ Sinn besitzen, der uns Informationen über unseren eigenen Geist verschafft.
Im Gegensatz zu den „äußeren“ Sinnen, die uns die Außenwelt lediglich indirekt, d.h. vermittels mitunter trügerischer sinnlicher Erscheinungen, zur Erfahrung bringen, ist der Blick, den uns der „innere“ Sinn auf den eigenen Geist gewährt, unverstellt. Die Trennung zwischen Erscheinung und Wirklichkeit ist hier – so die Idee – aufgehoben: Wenn wir innerlich wahrnehmen, dass wir uns im geistigen Zustand XY befinden, dann befinden wir uns auch in XY; der Fall, dass es uns so erscheint, als ob wir uns in XY befinden, es sich in Wirklichkeit aber anders verhält, ist ausgeschlossen. – Das ist, wie gesagt, die traditionelle Erklärung für den Unterschied zwischen der Art und Weise, in der andere Wissen über meinen Geist erwerben, und der Art und Weise, in der ich selbst Wissen über meinen Geist erwerbe.
Man kann die Diskussion, die seit den Tagen Ryles und des späten Wittgenstein in der analytischen Philosophie geführt wird, als Revolte gegen die traditionelle Erklärung auffassen: Analytische Philosophen und Philosophinnen haben nicht nur die Idee eines besonderen, den Unterschied zwischen Erscheinung und Wirklichkeit nivellierenden „inneren“ Sinns in Frage gestellt, sie bezweifeln zudem, ob es die Phänomene, die durch die Idee des „inneren“ Sinns erklärt werden sollen (z.B. die Leichtigkeit und Unmittelbarkeit, mit der ich wissen kann, was ich denke, will oder empfinde), überhaupt gibt. Letztlich, so könnte man sagen, hat die analytische Diskussion keinen Stein der traditionellen Erklärung auf dem anderen gelassen.
Mit der Vorlesung verfolge ich zwei Ziele: Zum einen möchte ich die Zuhörer und Zuhörerinnen mit einer Auswahl der meines Erachtens spannendsten Debatten vertraut machen, die derzeit in der analytischen Philosophie zu den Themen Selbstwissen, Introspektion und Selbstbewusstsein geführt werden; zum anderen möchte ich eigene Antworten auf die in diesen Debatten aufgeworfenen Fragen geben. Ich werde in der Vorlesung also nicht nur die Positionen anderer referieren, sondern auch (und vor allem) meine eigenen Auffassungen formulieren und argumentativ untermauern. Erwarten Sie daher bitte keine enzyklopädische Übersichtsvorlesung, die den Anspruch hat, Ihnen einen erschöpfenden Überblick über die gegenwärtig geführten Debatten zu liefern. Stellen Sie sich stattdessen darauf ein, einem Philosophen bei seiner, mitunter mühevollen, Kleinarbeit zur Lösung ausgewählter philosophischer Probleme über die Schulter zu schauen.
Ich hoffe, auf diese Weise ein lebendiges Beispiel der Ausübung jener Kompetenz geben zu können, um deren Vermittlung wir, die Lehrenden, uns in all unseren Veranstaltungen so redlich bemühen: eigenständig zu philosophieren.