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Erinnerung, Politik und Komplizenschaft: Totalitarismen in den Gegenwartsliteraturen Mittel- & Osteuropas - Einzelansicht
Studienorientierung mit der ZSB • Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
Termin & Ort
24.04.2023 14:00 - 16:00 (Merken)
Die Veranstaltung hat bereits stattgefunden. Eine Anmeldung ist nicht möglich

Die Literaturen Ost- und Mitteleuropas sind seit der Jahrtausendwende geprägt von einem Boom dokumentarischer Fiktion, die Formen problematischer Teilhabe an politischer und Massengewalt in den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts darstellt. Diese Texte porträtieren indes nicht allein vergangene Komplizenschaft etwa mit nationalsozialistischer Okkupation oder mit stalinistischem Terror, sondern untersuchen auch die Verstrickung von Nachkommen und Erinnerungskulturen in die politische Instrumentalisierung des kulturellen Gedächtnisses. Da historische Darstellung, wie Benjamin schreibt, stets der „Jetztzeit“ des Erinnerns gilt, wirft der Boom dokumentarischer Fiktion die Frage auf: Worin liegt jetzt das Interesse an vergangener Komplizenschaft?

Die Vorlesung folgt der Hypothese, dass die Texte Konvergenzen untersuchen zwischen Formen der Teilhabe an vergangener politischer und Massengewalt einerseits und andererseits gegenwärtigen Formen der Partizipation an destruktiven politischen, humanitären, und ökologischen Strukturen im Neoliberalismus. Während diese zwei Problembereiche sich in vielen Aspekten fundamental unterscheiden, korrespondieren sie dennoch strukturell und historisch: Strukturell erfordern beide einen nuancierten Begriff der Teilhabe. Doch während Partizipation ein zentrales Versprechen der Demokratie ist, so dass der Begriff hohe Schätzung und inflationäre Verwendung erfährt, ist er als Begriff nur schemenhaft erfasst und kein Gegenstand der Philosophie zwischen Leibniz und Heidegger. Historisch sind beide Komplexe problematischer Teilhabe verbunden, da Rechtfertigungen der Teilnahme an politischer und Massengewalt des 20. Jahrhunderts die Terminologie, Narrative und Heuristiken geprägt haben, in denen diese Gewalt noch in der Rückschau diskutiert wird. Diese Formung des kulturellen Gedächtnisses bildet auch den Rahmen, um gegenwärtige Formen problematischer Teilhabe zu verhandeln. Die Konvergenz von vergangenen und gegenwärtigen Formen problematischer Teilhabe ist von besonderem Interesse mit Blick auf gegenwärtige Krisen politischer Partizipation, die untergraben wird von einer oft unfreiwilligen und unumgänglichen Teilhabe an destruktiven ökonomischen Strukturen, die betragen zur Delegitimierung der Demokratie sowie zur Stärkung politischer Populismen und identitärer Ideologien.

Dokumentarische Fiktion ist mit Blick auf diese Krise von besonderem Interesse, weil Texte, die faktische historische Ereignisse in fiktionaler Handlung darstellen, diejenigen Aspekte der Teilhabe an politischer und Massengewalt ins Zentrum rücken, die sich konventionellen historiographischen Mitteln entziehen. Denn während die Kombination von Fakt und Fiktion geeignet ist, ethische Bedenken zu wecken, können fiktionale Erzählungen ein kulturelles Gedächtnis solcher Formen von Gewalt mitformen, die darauf zielen, das Gedächtnis und die kulturelle Identität großer Gruppen von Menschen auszulöschen. Kern der untersuchten Texte ist oft eine ambivalente Gedächtnispoetik, die Formen vergangener Komplizenschaft darstellt und zugleich die Teilnahme des Publikums an dieser Darstellung befragt.

Zu den (gegebenenfalls in Original und Übersetzung) besprochenen Texten gehören:

-                     Jelinek, Rechnitz (Der Würgeengel) (2009)

-                     Menasse, Dunkelblum (2021)

-                     Müller, Atemschaukel (2009)

-                     Denemarková, Peníze od Hitlera, 2006 („Ein herrlicher Flecken Erde“, 2009)

-                     Topol, Chladnou zemí, 2009 („Die Teufelswerkstatt“, 2010)

-                     Ulitzkaja, Даниель Штайн, Переводчик 2006 („Daniel Stein“, 2011)

-                     Petrowskaja, Vielleicht Esther (2014)

-                     Stepanova, Памяти памяти, 2017 („Nach dem Gedächtnis“, 2018)

-                     Fritsch, Herzklappen von Johnson & Johnson (2021)

-                     Kinstler, Come to This Court and Cry: How the Holocaust Ends (2022)



Die Vorlesung findet in Präsenz statt.