
Wagners musikdramatische Neugestaltungen mittelalterlicher Stoffe waren nicht darauf angelegt, deren Geschichtlichkeit wahrnehmbar zu machen; dem Publikum sollte vielmehr in sinnlicher Überwältigung ein mythischer Gehalt jenseits der historischen Zufälligkeiten seiner textuellen Überlieferung möglichst unmittelbar vergegenwärtigt werden. Im Lauf des 20. Jahrhunderts treten Librettisten und Komponisten allmählich aus dem Bann des Wagnerschen Musikdramas und entwickeln ein neues Interesse am Mittelalter; sie gehen dabei anders mit ihren Vorlagen um und entwerfen einen musiktheatral gestalteten mediävalen Imaginationsraum auf je individuelle Weise als ‚fernen Spiegel‘ mit besonderem Potenzial zur Reflexion der eigenen Gegenwart.
Beides – der spezifische Blick auf die Vormoderne ebenso wie der Aktualitätsbezug – soll in der Vorlesung an einer Reihe von Beispielen diskutiert werden (v.a. aus dem arthurischen Stoffkreis, außerdem etwa Adaptationen des Armen Heinrich und der Melusine, Opern mit Kreuzzugssujets oder mit Dichterfiguren wie Oswald von Wolkenstein als Protagonisten). Dabei wird jeweils in konsequenter Doppelperspektive eine Einführung in die einschlägigen mittelalterlichen Prätexte mit der Vorstellung des musiktheatralen Werks und der Analyse seiner dramaturgischen Anlage verknüpft.